Am Mittwoch Abend (8. April) erreicht mich ein Anruf meiner Freundin aus Andahuaylas. Sie ist ganz aufgelöst, ich höre sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. Sie bittet mich mit ihr zu beten. Zwei Mädchen, deren Familie sie im Projekt betreut, wollten vor der Ausgangssperre die zwei Schafe versorgen, als sie in ein Gewitter kamen. Ein Blitz schlug ein und traf die 13jährige Ada, ihre Schwester Ester wurde bewusstlos. Als sie erwacht, blutet ihre Nase stark, alles tat ihr weh, dann trägt sie ihre Schwester ein Stück nach Hause, eine übermenschliche Leistung, bis sie selbst nicht mehr laufen kann. Ein Nachbar findet sie und verständigt den Vater. Er trägt seine Tochter Ada nach Hause. Jedoch verstirbt sie noch auf dem Weg. Ester blutet weiter, der Vater tut das einzig Richtige, und ruft Bine Vogel von casayohana an.
In diesen Zeiten der Ausgangssperre ist es jedoch super schwer zu handeln. Doch kann Bine Vogel alle Hebel in Bewegung setzen und ein Krankenwagen macht sich auf dem Weg zu der Familie. Da diese arme Familie in einem abgelegenen Andendorf auf fast 4000 Metern lebt, wird er 2 1/2 Stunden brauchen bis er die Familie erreicht, danach 4 Stunden bis in die Klinik nach Andahuaylas. Wir können nur gemeinsam beten und Gott anflehen. Nur allein auf Gott vertrauen, ohne etwas tun zu können, ohne schon ins Krankenhaus vorzufahren, die Verletzte dort in Empfang zu nehmen, ohne das nötige Geld hinbringen zu dürfen … sehr schwer auszuhalten. Auch ein Anruf bei der Polizei bestätigt, dass Bine in dieser Ausnahmesituation das Haus nicht verlassen darf. Schockierend. Verzweiflung. Unverständnis. Aber da kann man nichts dagegen machen. Wir sprechen uns Mut zu:
WIR können nichts tun, GOTT kann alles.
Nie ist es deutlicher als an diesem Mittwoch Abend. Viele beten mit, in Peru und in Deutschland. Bine und ich weinen gemeinsam … hoffen, beten, flehen … viele mit uns, jeder an seinem Ort.
Die komplette Nacht bekommen wir keine Nachrichten, schwer auszuhalten …
Beim Aufwachen immer noch keine Nachrichten. Dann um 6:54 Uhr erfahren wir, dass Ester wohl lebend im Krankenhaus angekommen ist. Erleichterung.
Wir beten weiter, auch mit dem Wissen, dass die Familie bereits 4 Kinder hat, die durch Unterernährung extrem entwicklungsverzögert sind. Das Handling mit einem schwerst behinderten Kind wäre für die Familie kaum machbar.
Um 11 eine WhatsApp von Bine:
„Es gibt ein bisschen Entwarnung, sie ist wach, ansprechbar, hat fürchterliche Kopf-und Körperschmerzen, immer wieder Nasenbluten und spürt ihr rechtes Bein und Fuß nicht. Der Arzt sagt, wir müssen 72 Stunden abwarten, dann kann man Näheres sagen. Wir sind auch gerade dabei, über eine Krankenschwester, die eine Ausgangsbescheinigung hat, Geld an Guiermo (den Vater) geben zu können, zwecks den Behandlungskosten! Danke für Eure Gebete bis hierher und Danke, wenn Ihr bitte weiter dafür betet! (auch für die Kosten, dass es zahlbar bleibt!) Danke!“
Hierzu sollte man wissen, dass man in Peru nicht behandelt wird, wenn man nicht sofort bezahlen kann (Ausnahme: das Krankenhaus „Diospi Suyana“). Man muss alles selbst bezahlen und wird teilweise sogar zum Einkaufen geschickt, so z.B. auch die Handschuhe der Krankenschwestern, unvorstellbar …
Am Nachmittag eine weitere Nachricht, die schockiert: Ester wird aus dem Krankenhaus entlassen. Da sie 2 Mal gehustet hat, hat das Personal Angst vor „Corona“ und entlässt das 15jährige Mädchen ohne viel gemacht zu haben …
Wieder ist Bine Vogel zu Stelle und nimmt sie bei sich auf. Sie nimmt Kontakt mit Dr. Martina John auf, die sofort bereit ist, dass Mädchen bei uns im Krankenhaus aufzunehmen und gibt gute Tipps für die Nacht.
Bine Vogel überwacht das Mädchen die ganze Nacht, stündlich kontrolliert sie die Pupillenreflexe und die Sauerstoffsättigung. Wieder einmal macht sich bezahlt, dass sie Intensivfachschwester ist.
Die Ausgangssperre ist in Peru sehr streng. Bine Vogel verlässt, als sichtbare Europäerin, das Haus derzeit überhaupt nicht. (Viele Peruaner sind davon überzeugt, dass die Ausländer das Corona-Virus bringen.) Dennoch macht sich Bine am nächsten Morgen auf den Weg ins Krankenhaus „Diospi Suyana“. Sie ist wirklich eine sehr mutige Frau, die sich voll und ganz für „ihre“ Familien einsetzt. Der Weg dauert 5 Stunden über kurvenreiche Andenstraßen, dabei müssen 3 Pässe auf je 4000 Meter Höhe überwunden werden. Bine hat ein Schreiben der Polizei dabei, das bescheinigt, dass die Patientin ins Krankenhaus „Diospi Suyana“ muss und Bine sie begleiten darf. Aber wird das Schreiben reichen? In den letzten Tagen haben wir die Erfahrung gemacht, dass dies nicht immer der Fall ist. Bine Vogel betet: „Bitte mach uns für die Polizei unsichtbar.“ Und tatsächlich begegnen sie die ersten 2 1/2 Stunden keiner Polizeikontrolle. In der Stadt Abancay hingegen sehen sie sage und schreibe ca. 40 Polizisten, doch sie werden nicht aufgehalten. Es kommt ihnen wie ein Wunder vor. Nur ein einziges Mal werden sie kontrolliert – und dürfen weiter fahren. Erschöpft aber überglücklich kommen sie im Krankenhaus an.
Dr. Martina John nimmt mich mit in die Klinik. Das erste Mal in 4 Wochen, dass ich die Klinik betreten darf. Ich freue mich, auch wenn der Anlass natürlich nicht so schön ist.
Ester braucht einen Rollstuhl um auf die Krankenstation zu kommen. Einfühlsam wird sie von Dr. Martina John untersucht.
Bine Vogel muss nach einer kurzen Übergabe wieder nach Andabaylas zurück fahren, denn die Fahrerlaubnis gilt nur bis 18 Uhr abends. Sie kommt dort mit überwindbaren Schwierigkeiten, erleichtert und rechtzeitig an.
Schon am Nachmittag stellt sich Erleichterung ein. Das Blutbild ist zufriedenstellend, ebenso das EKG und CT. Es ist ein Wunder!
DANKE, unser guter GOTT.
Ich versorge das Mädchen und ihren Vater mit Kleidern aus unserer Kleiderkammer. Schliesslich haben sie in der Eile kaum etwas mitgebracht. Sie sind sehr dankbar darüber.
Am nächsten Tag zeigt sich Dr. Martina John zufrieden bei der Visite. Ich bringe einige Kleinigkeiten mit in die Klinik, worüber sie sich sehr freuen. Besonders dankbar waren sie über ein Bild, des verstorbenen Kindes. Bei meinem Besuch vor einem Jahr habe ich einige schöne Aufnahmen von ihr gemachen können.
Wir reden über den Unfall, spielen Memory und machen ein erstes kleines Gehtaining auf dem Krankenhausflur.
Der Vater erzählt, dass bereits gestern seine Tochter beerdigt wurde. Viele Sachen sind zurzeit nicht käuflich zu erwerben, so z.B. Nägel. Die Nachbarn haben aber netterweise ausgeholfen. Es ist schwer für ihn, nicht bei der Beerdigung dabei sein zu können. Aber das Bild der Tochter hebe er auf, solange er lebe. Außerdem ist er sicher, dass Ada beim „Papito Dios“ ist. Ada war ein freudiges, gläubiges Mädchen, sie habe so gerne Lobpreislieder gesungen.
Ich danke Gott von Herzen! Es ist schwer zu ertragen, dass er Ada zu sich geholt hat, aber Ester hat er behütet und auf seinen Händen getragen.
Gott ist groß und er kann ALLES erreichen. DANKE!